Aller Anfang ist leicht
Einsteigerprobleme im Lebenslangen Lernen
Frauen machen sich auf ihren (Bildungs-)Weg
Das Westfalen-Kolleg in Paderborn bietet Bildungsinteressierten verschieden Moglichkeiten, in dreijahrigen Kursen das Abitur zu erwerben.
Diese Lehrgange sind nach der Stundentafel des Abendgymnasiums strukturiert:
20 Wochenstunden Unterricht zusatzlich zu einer regularen Berufstatigkeit.
Es gibt zwei verschiedene Angebote: AGV (Abendgymnasium am Vormittag) oder AOL (Abitur online). Wahrend das Angebot im AGV einen Stundenplan mit taglichem Unterricht von 8.00 bis 12.00 Uhr aufweist, biete der Lehrgang AOL Unterricht in Prasenz und Distanz an. Das hei?t, die Teilnehmer haben am Freitagabend und am Samstagmorgen insgesamt 10 Stunden Unterricht, die anderen 10 Stunden werden in der Distanzphase uber eine Lernplattform geleistet.
Beide Lehrgange werden von Frauen wahrgenommen, die sich neben ihrer Arbeit in der Familie und der Erziehung der Kinder weiterbilden wollen. Die Arbeit als Hausfrau und Mutter wird als „Berufstatigkeit“ anerkannt. Teilnehmerinnen bzw, Absolventinnen dieser Lehrgange berichten von ihren Erfahrungen.
Voruberlegungen zu dieser Projektinitiative waren folgende Beobachtungen
Anbieter im Bereich Lebenslanges Lernen – sowohl abschlussbezogene Angebote wie auch nicht-abschlussbezogene Angebote – stellen zunehmend fest, dass sich Interessenten melden und einen Kurs beginnen, die ihre Voraussetzungen schwer bis gar nicht einschatzen konnen, d.h. sie uber- bzw. unterschatzen ihre Leistungsfahigkeit und ihre Voraussetzungen deutlich.
Deshalb sollen in dieser Lernpartnerschaft Diagnoseinstrumentarien entwickelt werden, die den Bewerbern fur Kursangebote einen besseren Abgleich mit ihren Lerninteressen, ihrer Lernmotivation und ihren biographischen Lernerfahrungen ermoglicht.
Dazu wuerde zaehlen
- Differenzierte Darstellung der Angebote einer Einrichtung.
- Verbesserung der Beratungsstruktur.
Viele erwachsene Lerner haben immer noch diverse Zugangsschwierigkeiten
- Schlechte Vorerfahrungen mit fruheren Lernprozessen.
- Unspezifische Informationen uber aktuelle Angebote.
- Uberschatzung oder Unterschatzung der eigenen Moglichkeiten.
- Geschlechtsspezifische / sozialspezifische Vorbehalte.
- Migrationshintergrund.
- Hedonistische Lebensauffassung.
Um bereits im Vorfeld einen „Eigentest“ zu ermoglichen oder ein standardisiertes Testverfahren anbieten zu konnen, das dem Bewerber die Anonymitat sichert, die gerade zur Uberwindung der Schwellenangste sehr wichtig ist, sollen Module entwickelt werden, die fur Bewerber verwendet werden konnen.
Alle Partner machen in ihren Einrichtungen vergleichbare Erfahrungen, wenn sich auch die Klientel ortsspezifisch unterscheidet. Durch eine transnationale Zusammenarbeit bzw. einen entsprechenden Austausch von Daten und Vorgehensweisen konnen solche Eingangstests entscheidend verbessert werden.
Das Projekt beginnt mit einer Befragung von Studierenden und Lehrenden in den Partnereinrichtungen.
Folgende Fragebogen wurden eingesetzt
Absolventinnen berichten von ihren Erfahrungen
Kerstin, 42 (DE)
Ich heisse Kerstin, bin 42 Jahre, mein Sohn ist 21. Er hat vor 2 Jahren sein Abitur absolviert.
Nach fast 20jahriger Berufstatigkeit wollte ich mir nun endlich meinen Wunsch zu studieren erfullen. Beruflich hatte ich viele Moglichkeiten meine Fahigkeiten zu beweisen, aber eine adaquate Entlohnung wurde meist mit dem Argument abgeschmettert, dass fur diese Stelle eine akademische Ausbildung notig ware. Nun war mein Kind aus dem Haus, die finanziellen Bedingungen hatten sich normalisiert, mein Mann stand hinter meinem Entschluss (selbst im universitaren Bereich tatig – studieren Normalitat).
Bei der Anmeldung im Westfalenkolleg wurde mir geraten, dass ich mir doch besser uberlegen sollte zu den „Alteren“ zu gehen. Es war mir vollig unverstandlich, aber ich folgte dem Rat.
20 Stunden Schule pro Woche, dann nicht mehr im Sportunterricht neben 20jahrigen bestehen zu mussen, war angenehm.
Ein wahrer Luxus, endlich die Moglichkeit und Zeit zu haben, zu neuen Themen geleitet zu werden und sich in den Stoff zu vertiefen. Durch 25 Jahre in der DDR hatte ich au?erdem noch eine andere soziale und schulische Pragung erfahren. Ich war gespannt.
Dann erfuhr meine Familie von meinem Entschluss.
Bis heute, nach mittlerweile 2,5-jahriger Schulzeit, stosse ich immer noch auf Zweifel und Unverstandnis.
Dann mein Alter, mit 42 noch ein Studium beginnen, das ist fur viele unvorstellbar.
Leider noch unvorstellbarer mein Spa? am Lernen und Entdecken neuer Wissengebiete. Dass sich daraus immer wieder neue Berufsideen und Chancen generieren, daruber kann ich nur mit wenigen diskutieren.
Um auf den Unterschied des Abiturs fur jungere und altere einzugehen, beweist mir die Diskussion mit meinem Sohn und auch Gesprache mit Jugendlichen des Kollegs, dass – vielleicht - noch nicht der Wunsch besteht sich selbst zu beweisen. Die Einstellung zum Lernen lautet eher cool sein und durch wenig bis gar nicht lernen noch cooler zu sein.
Ich war lange allein erziehend, musste fur unser finanzielles Wohl sorgen und konnte mich nicht um ein Studium kummern. Mein Sohn ist jetzt unabhangig, ich habe einen neuen Partner, ich kann mich auf neue Dinge konzentrieren. Mama sein und Vorbild sein, das will ich hier nicht.
Ich will einzig nur fur mich etwas tun und mir nicht den Zugang zu Bildung verhindern lassen. Aus diesem Grund ist eine altersmassig einigermassen homogene Gruppe eine wichtige Grundlage, um wenigstens in der Klasse einen Hort der Gleichgesinnten zu finden.
Im Nachhinein kann ich diesen Gang durch das Abitur nur empfehlen, da viele Fahigkeiten und Fertigkeiten um wissenschaftlich zu arbeiten, hier entwickelt und vervollkommnet werden. Es ist eine Zeit vor dem wirklich wichtigen Part, dem Studium. So gestarkt weiss ich, was ich kann, lasse mich durch fremde Meinungen nicht mehr einschuchtern und kann die neuen Herausforderungen besser einschatzen.
Liliane, 44 (DE)
Geboren bin ich 1963 in Polen in einem Dorf mit 50 Familien. Meine hohere Schulbildung fand in Wroclaw statt.
Dort besuchte ich ein Allgemeinbildendes Lyzeum. Mit 20 Jahren bin ich nach Deutschland „gefluchtet“ (meine Mutter hat mich dazu uberredet) oder - wie man heute auch sagt - ausgewandert. Hier besuchte ich wieder eine Schule, und zwar von 1983-1986 die Berufsfachschule fur technische Assistenten, Fachrichtung Physik.
- Im Juli 1986 Abschluss der Schulausbildung.
- August 1986 Eintritt ins Berufsleben (erste Frau in diesem Betrieb auf einem Posten als Qualitatsicherungsverantwortliche).
- Oktober 1986 Heirat.
- November 1986 Hauskauf (Puh, das war anstrengend, stressig, aber irgendwie auch schon).
- Nach 7 Jahren Job und Eheleben hatte ich beschlossen, das meint zumindest mein Exehemann, ein Kind zu bekommen.
- In der ganzen Zeit ging es uns sehr gut. Mein Ex- hat Karriere gemacht, als das Kind 3 Jahre alt war, hat er ein zweites Studium an einer Fernuni angefangen. Dem folgte ein Geschaftsfuhrerposten.
Er machte Karriere und ich sa? zuhause, passte auf mein Kind auf und zu besonderen Anlassen durfte ich als Vorzeigeobjekt fungieren. Ich langweilte mich zur Tode. Suchte mir eine Stelle als Teilzeitkraft und meldete mich in einem Sportverein an, nur um der Langeweile zu entkommen. Es dauerte nicht lange und 2001 bekam mein Ex ein Angebot in Malaysia zu arbeiten. Ich hatte gro?e Bedenken, dass ich mich noch mehr langweilen wurde, da man als Frau eines Managers dort gar nichts machen darf, denn da man hat fur alles „Bedienstete“. Ich bin trotzdem mitgegangen, der Karriere und des Geldes wegen. Ich genoss das Leben dort. Hatte viele Freunde, lernte viele wichtige Leute kennen. Durch den Job war meines Ex war er fast nie zuhause. Ich wurde immer unabhangiger. Traf alleine viele wichtige Entscheidungen. Seine Unzufriedenheit, der Druck in der Firma, die unabhangige Frau zuhause fuhrten dazu, dass er sich eine Freundin „zulegte“. Daraufhin bin ich im Fruhling 2003 mit meinem Kind wieder zuruck nach Deutschland gegangen. Was tun? Arbeiten? Lenkt das ab? Lasst vergessen? Bildung? Aber wo und was? Will ich ihm nacheifern, um ein Diplom vorzuweisen? Macht meine Familie das mit?
- Schulanfang 2003.
- Scheidung 2004.
Ich hatte und habe Unterstutzung von meiner Familie. Meine Mutter hat mir immer gesagt "Bildung schadet nur dem, der keine hat". Meine Golffreunde (mit hoherer Schulbildung) sprechen mir immer viel Mut zu und bestarken mich meinen Weg weiter zu gehen. Andere Leute (mit mittlerer Schulbildung) wiederum sagen, warum machst du das, was bringen dir die Schule und ein Studium? Du bist sowieso zu alt, um eine Stelle zu bekommen.
- Jetzt will ich meinen Weg weitergehen. Was bringt die Zukunft? Das wei? keiner, aber es ist unheimlich interessant und ich bin sehr neugierig auf meine Zukunft.
- Abitur 2006.
- Diplom 2011.
Maria, 28
Ich heisse Maria. Ich bin mit 5 Jahren nach Deutschland gekommen. Die Jahre bis zur 10’ten Schulklasse waren sehr hart fur mich, da ich als einzige Auslanderin meiner Klasse sehr ausgegrenzt wurde.
Nach einem 1-jahrigen Auslandsaufenthalt in den USA, wo ich zur Schule ging und Englisch lernte, besuchte ich die Gesamtschule in Paderborn. Ich war dort eine sehr gute Schulerin mit guten Noten.
Leider lernte ich zu dieser Zeit meinen damaligen Exfreund kennen. Dieser war im letzten Jahr seiner Ausbildung. Zusammen finanzierten wir mit seinem Ausbildungsgehalt und meinem Minijob die kleine Wohnung. Seine materiellen Anspruche wuchsen immer mehr und er begann nach kurzer Zeit seine Aggressionen uber die schlecht finanzielle Lage an mir auszulassen.
Da ich mich nicht traute mit den vielen blauen Flecken zur Schule zu gehen, brach ich mein Abitur in der 13.1 ab und ging Vollzeit arbeiten. Das kam ihm sehr entgegen und er gab das von mir verdiente Geld mit vollen Handen aus. Als unsere Katze eines Tages auf dem Dach war und nicht ins Haus reinkommen wollte, brach er ihr das Bein. Dem Tierarzt gegenuber behauptete er, sie sei vom Dach gefallen.
Da er langsam merkte, dass ich „Fluchgedanken“ hatte, druckte er mich an die Wand, hob mich am Kiefer mit einer Hand hoch und sagte: „Wenn du mich verlasst, tote ich dich.“
Das war einen Tag vor seiner Abschlussprufung.
Am folgenden Tag als er das Haus zu seiner Prufung verliess, habe ich meine Kleidung und meine sonstigen Sachen in gelbe Sacke gepackt, die Lampen mit der Schere von der Decke geschnitten, meine Arbeitskollegen und meinen Vater angerufen, die mich abgeholt haben und mir bei meiner Flucht halfen. Diese Phase meines Lebens, 1 Jahr, war gepragt von Angst. In der darauf folgenden Zeit kamen noch viele Drohanrufe und SMS auf mein Handy, was erst ein Ende hatte, als ich die Polizei einschaltete.
Folgend absolvierte ich 2004 meine Ausbildung zur IT- Systemkauffrau und Fachberaterin Vertrieb. Damit kann ich nun an der Fachhochschule studieren.
2006 habe ich meinen Mann geheiratet. Er unterstutzt mich in allem was ich tue und ist immer fur mich da. Durch ihn habe ich begonnen, mich auf das zu besinnen, was ich tun mochte, was ich in meinem Leben erreichen und bewirken mochte, unabhangig von anderen Personen.
Weshalb ich mich zum Abitur angemeldet habe?
Mein Schlusselerlebnis war das Buch „Der Alchemist“ von Paulo Coelho. Es zeigt den harten Weg und die Umwege, die man machen muss, um doch letztendlich an sein Ziel zu kommen und seine Traume zu verwirklichen. Aber es gibt immer einen Weg, sie zu erreichen, wenn man sich nur traut, es zu versuchen.
Mein Traum ist es Tiermedizin zu studieren. Dafur mache ich mein Abitur.
Jeanny, 32
Ich bin Jeanny, 32 Jahre alt, bin verheiratet und habe eine 13-jahrige Tochter. Nach meinem 18. Lebensjahr habe ich nicht mehr aufgehort zu arbeiten. In Brasilien habe ich viele Erfahrungen in kaufmannischen Beruf gesammelt.
Das „brasilianische“ Abi habe ich erwoben und mich als Buchhalterin ausbilden lassen. Mein bedeutendster Job war als Sachbearbeiterin in der Hauptstadt-Filiale der 2. gro?ten Supermarktkette Brasiliens.
3 Jahre lang hiess es nur fur meine Tochter da sein und arbeit. Die Arbeit in der Personalabteilung war derma?en anstrengend (480 Mitarbeiter zu uberwachen), dass ich abends immer sehr erschopft war, bis ich irgendwann auf meinen Wunsch hin eine gute Abfindung bekam.
Ein Teil dieses Geld diente dazu, einen meiner ersten Traumen zu erfullen: einmal in Europa gewesen zu sein. Hier habe ich meinen Man kennengelernt und im Juli 2000 haben wir geheiratet. Schon am Anfang hie? es Sprache lernen. Ich liebe es, andere Sprache zu lernen, andere Kultur kennen zu lernen.
Ich wollte mich anpassen und fur mich bedeutet das: ich soll hier glucklich sein, und dafur musste ich meine Traume in Erfullung bringen: einer davon ist einen Hochschulstudium zu absolvieren. Dann dachte ich, jetzt muss es weitergehen. 2 Jahre lang habe ich Deutsch als Fremdsprache gelernt. Gearbeitet habe ich auch immer in diesen 7 Jahre, die ich hier in Deutschland lebe. In 2004 habe ich einen Kurs als „Kaufmannische Assistentin fur Informationsverarbeitung“ besucht (Dauer 3 Jahre).
Nach einem Betriebspraktikum in 2005, wurde ich von der Firma ubernommen. Ich habe einen festen Job in einem Bereich, in dem ich gerne arbeite: Export und Verkaufinnendienst. Ich war trotzdem noch nicht zufrieden, weil ich die Hochschulreife noch erreichen will. Dann nach einem Jahr und nach sehr viel Unterstutzung meiner Familie (Ehemann und Tochter) fing ich den Abi-online-Kurs (genannt AOL) an.
Am Anfang ist es sehr schwierig, aber nach einer Zeit gewohnt man sich daran und teilt sich seine Zeit besser ein. Zeit selbst zu managen, ist einen Vorteil, nach einem langen Arbeitstag alleine zuhause zu lernen und schnell den Haushalt noch in den Griff zu bekommen, ist der Nachteil. Jedoch, muss ich immer wieder bestatigen, dass das eine wichtige Entscheidung war: das „deutsche“ Abi zu erwerben und weiter zu lernen.
Manche Freunde sagen, dass ich hyperaktiv bin. Da bin ich in anderer Meinung: ich habe Traume und mochte moglichst viele davon verwirklichen. Realistisch zu sein gehort aber zu der wichtigsten Eigenschaften von ehrgeizigen Personen.